Wie wollen wir künftig leben und arbeiten?

 

Wenn man von jedem Ort aus arbeiten und sich via Video-Konferenz mit den ebenfalls irgendwo in der Welt sitzenden Kolleg*innen verbinden kann: Muss man dann wirklich in einer teuren, beengten Stadtwohnung leben? Wäre es nicht viel schöner auf dem Land mit frischer Luft und Ausblick ins Grüne? Netflixen und chillen geht schließlich überall.

 

Glaubt man manchen Berichten, hat Corona eine neue Lust auf das Landleben ausgelöst – oder vielleicht auch nur eine bereits vorher gegebene Tendenz verstärkt. Übervolle Parks und Wälder, ein Run auf Kleingärten und Staus auf dem Weg zu Naherholungsgebieten zeugen in Zeiten des Shutdowns von einem tiefen Verlangen der Städter nach Natur.

 

Bereits vor Corona haben bei einer Umfrage nur 19 Prozent der Befragten angegeben, dass sie gerne in der Großstadt leben wollen. Bei Familien betrug der Wert sogar nur 11 Prozent. Wird die Urbanisierung also an Fahrt verlieren oder sich gar umkehren? Die Fakten sprechen noch eine andere Sprache: München gewann 2020 mehr als 31.000 Einwohner*innen hinzu, Berlin 15.000 und Hamburg 11.000. Auch die Mieten steigen weiter, wenn auch nicht mehr so stark wie in den Jahren zuvor. Deutschlandweit sind die Mieten 2020 im Durchschnitt nur um 1,8 Prozent gestiegen – in den Jahren zuvor waren es bis zu fünf Prozent. In keiner der größten Städte haben sich die Mieten 2020 um mehr als fünf Prozent im Vergleich zum Vorjahr erhöht. Klar ist: Corona hat einiges in Gang gesetzt, vor allem für die „Wissensarbeiter*innen“.

 

Home-Office hat sich in vielen Unternehmen bewährt – und wird auch nach Corona, zumindest als Alternative zum Präsenzbüro, eine größere Rolle spielen. Vom „wohl schnellsten grundsätzlichen Wandel der Arbeitskultur seit Beginn der Industrialisierung“ schreibt der SPIEGEL.

 

Beinahe drei Viertel der Erwerbstätigen würden laut SPIEGEL-Umfrage weiterhin gerne zeitweise im Home-Office arbeiten – fast alle deutschen Dax-Konzerne entwickeln bereits Konzepte hierfür. Und wenn man nicht jeden Tag ins Büro muss, dann muss man auch nicht unbedingt in dessen unmittelbarer Nähe wohnen. Einmal in der Woche kann man auch etwas länger pendeln – gerne auch mit Bus und Bahn, so vorhanden, oder mittelfristig mit autonom fahrenden Elektromobilen.

 

Manche Städte und Regionen, denen vor Kurzem noch Schrumpfung und Niedergang prophezeit wurde, könnten davon profitieren. Vor allem Familien, und mit ihnen viele Fachkräfte, dürfte es aufs Land ziehen, während für junge Leute immer noch der „urbane Dschungel“ enorme Anziehungskraft besitzt – ein kleines WG-Zimmer muss dann halt erst einmal reichen.

 

Schon jetzt zeigt sich, dass die Speckgürtel der Metropolen wachsen – um den ersten Ring legt sich ein zweiter und erfasst weitere Ortschaften. Olaf Arndt vom Forschungsinstitut Prognos spricht in der BRAND EINS von der 60-Minuten-Stadt: „In den kommenden Jahren wird jeder Standort interessant, von dem aus der Arbeitsplatz innerhalb einer Stunde erreichbar ist.“ Das hat bereits Folgen für die Mietpreisentwicklung: Im vergangenen Jahr sind laut DIE ZEIT die Mieten in den Speckgürteln erstmals stärker gestiegen als in den Großstädten.

 

Viel Grün allein wird allerdings auf Dauer nicht ausreichen, um verwöhnte Städter anzuziehen und vor allem zu halten: Für die Video-Konferenzen braucht man eine gute Internetverbindung. Auch Kitas, Schulen und Krankenhäuser sowie eine funktionierende ÖPNV-Anbindung sollten vorhanden sein – ebenso Orte der Begegnung, von Sportstätten über Kneipen und Clubs bis hin zu einem Grundangebot an Kultur. Mit anderen Worten: Das Land sollte ein bisschen mehr Stadtqualitäten aufweisen.

 

In manchen großen Städten laufen die Planungen genau in die andere Richtung. Städte wie Paris wollen nicht mehr das Auto, sondern die Fußgänger*innen in den Fokus stellen. Das neue Ideal ist die 15-Minuten-Stadt, in der innerhalb von 15 Minuten zu Fuß (oder mit dem Fahrrad) alles Wichtige zu erreichen ist. Autos werden zunehmend überflüssig – und wo keine Parkplätze mehr gebraucht werden, entstehen neue Freiräume für Grünflächen und öffentliche Begegnungsorte. Oder anders gesagt: Die Stadt gewinnt ländliche Qualitäten – und entwickelt dadurch wieder neue Anziehungskräfte.

 

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