Gründerzeit Reloaded?

 

Die heutige Innenstadt, die vor allem für Konsum und Büroarbeit da ist, während Wohnen und Produktion woanders stattfinden, ist eine recht neue Erfindung – und vielleicht bald schon wieder Vergangenheit. Führt der Weg in die Zukunft in eine Art Gründerzeit Reloaded?

Corona wirkt auch in den Innenstädten als Beschleuniger einer Entwicklung, die bereits länger in Gang ist. Die coronabedingten Shutdowns haben dem schon sprichwörtlichen Innenstadtsterben eine neue Dynamik gegeben. Bereits seit Jahren setzen Amazon & Co. dem klassischen Einzelhandel vor Ort zu. Jetzt sind es nicht mehr nur die kleinen, inhabergeführten Läden, die aufgeben, auch einige der bekannten Ketten, die in vielen Innenstädten das immer gleichförmigere Bild prägen, ziehen sich zurück. Die einstigen Kaufhausriesen gewinnen selbst durch immer neue Konzepte oder Namen ihre Magnetkraft nicht zurück. Manche Malls, einst Stolz der Stadtväter, wirken heute völlig überdimensioniert und aus der Zeit gefallen. Und wo Homeoffice und Remote Working immer mehr um sich greifen, werden etliche der großzügig bemessenen Büroflächen in den Obergeschossen nicht mehr benötigt. Die Folgen sind in vielen Städten zu besichtigen: immer mehr Leerstand, aber auch Billigläden und Imbisse, die Stadtplanern und Stadtplanerinnen keine Freude bereiten.

 

Neue Lebendigkeit.

Strukturwandel und Transformation sind auch für die Zukunft der Innenstädte Schlüsselbegriffe. Die Stadtplanerin Dr. Cordelia Polinna hat in ihrem Beitrag zum kultur.west-Special „Zukunft der Zentren“ anlässlich der Kulturkonferenz Ruhr 2021 einen wichtigen Aspekt für den künftigen Weg herausgearbeitet: In Zukunft wird man nicht mehr in die Innenstadt gehen, weil man es muss – um einzukaufen oder zu arbeiten –, sondern weil man es möchte, aus welchem Grund auch immer. Städteplaner, aber auch Händler, Gastronomen und nicht zuletzt die Immobilienwirtschaft müssen sich also etwas einfallen lassen, damit die Innenstädte neue Anziehungskraft entwickeln und wieder zu lebendigen Orten für alle werden. „Soziale Funktionen und Angebote, die Austausch, Kommunikation und Begegnungen ermöglichen, werden an Bedeutung gewinnen“, ist sich Polinna sicher. Gefragt sind frei zugängliche „Dritte Orte“, an denen sich Menschen gerne treffen und aufhalten, als Ergänzung zu Familien- und Arbeitsleben. „Der öffentliche Raum ist der Sozialraum unserer Demokratie, wir dürfen ihn nicht einfach sterben lassen, sondern müssen uns im Gegenteil bemühen, ihn mit seinen Straßenfassaden als öffentlichen ‚Wohnraum‘ zu gestalten“, sagt der Architekt Christoph Mäckler im SPIEGEL-Interview und fordert: „Wir müssen zur Normalität zurück, wie wir sie aus den Gründerzeitvierteln kennen, die die Gesellschaft heute als die beliebtesten Quartiere schätzt.“ Auch die Ende November 2020 beim informellen Ministertreffen für Stadtentwicklung verabschiedete Neue Leipzig-Charta der EU sieht eine veränderte Rolle für die Innenstädte, eine Art „Gründerzeit Reloaded“: „Die Umwandlung von Innenstadtbereichen in attraktive multifunktionale Räume bietet neue Möglichkeiten für die Stadtentwicklung: Es entstehen verschiedene Nutzungen für die Bereiche Wohnen, Arbeiten und Erholung. Produzierendes Gewerbe, Einzelhandel und Dienstleistungen finden sich dort gleichermaßen wie Wohnungen, Gastgewerbe und Freizeitangebote.“

 

Neue Vielfalt.

Wie also kann die „Zukunft der Zentren“ aussehen? Kreative Zwischen- oder Umnutzungen von leer stehenden Geschäften, Büros, Kaufhäusern oder Malls geben schon jetzt Ausblicke in mögliche Zukünfte. Pop-up-Shops und temporäre Galerien bringen neues Leben in totgesagte Malls und Einkaufsstraßen. Coworking Spaces ermöglichen neue Formen der Zusammenarbeit – meist angeschlossen an Cafés und andere niederschwellige Stätten der Begegnung. Cohousing- Konzepte für gemeinschaftliches Wohnen könnten schon bald Einzug in leer stehende Büroflächen halten. Sogenannte Maker Spaces wie Siebdruck- und Fahrradwerkstätten, Repair Cafés und FabLabs holen die Produktion in zunächst noch kleinem Maßstab in die Stadt zurück. Mit Urban Farming auf Dächern oder frei stehenden Flächen lassen sich sogar Nahrungsmittel in der Stadt produzieren. In Städten wie Paris werden Parkhäuser, die wegen der eingeleiteten Verkehrswende nicht mehr benötigt werden, in vertikale Bio-Plantagen umgewandelt. Im Bergischen Land untersucht das Forschungsprojekt „Neue Urbane Produktion“, wie nachhaltige, gemeinwohlorientierte und lebensraumnahe Orte der Produktion in der Stadt aussehen können. Allen Konzepten gemein ist, dass sie von dem jeweiligen Ort und den mit ihm verbundenen Menschen ausgehen: So entstehen Schritt für Schritt Orte, die durch Eigenständigkeit und Charakter überzeugen – ein Gegenentwurf zu den austauschbaren Malls und Shopping-Meilen mit den immer gleichen Filialketten. Solche Konzepte können aber nur gelingen, wenn Zivilgesellschaft, Verwaltung, Immobilienwirtschaft, Einzelhandel und andere Wirtschaftsbranchen den Mut haben, neue Allianzen zu schließen und gemeinsam neue Wege zu gehen. „Stadt machen, statt machen lassen“, lautet das Motto der Münsteraner Initiative B-Side, die genau das exemplarisch in einem alten Speicher am innenstadtnahen Hafen versucht. Vielleicht hat es ja eine Krise wie die Corona-Pandemie gebraucht, um ein solches Umdenken möglich zu machen.

 

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